Global Recruiting erfolgreich managen - Zur Bedeutung des kulturellen Settings in der Eignungsdiagnostik

Written on 5/17/24

Längst ist es Normalität, dass wir in unserem Alltag mit Personen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen interagieren. Auch aus der Berufswelt ist Interkulturalität nicht mehr wegzudenken. Sei es die direkte Kollegin im Büro, die einen Migrationshintergrund hat oder auch die Zusammenarbeit mit einem Kollegen eines anderen Standorts des Unternehmens im Ausland. Auch viele Recruiter*innen stellen nicht mehr nur für den eigenen Standort Personal ein, sondern arbeiten auf globaler Ebene und begleiten Einstellungsprozesse an ausländischen Unternehmensstandorten.

Dies zieht verschiedene Herausforderungen mit sich. Neben der Beachtung des Arbeitsmarkts und der örtlichen rechtlichen Bedingungen, gilt es, Recruiting- und Diagnostikprozesse so zu gestalten, dass diese an die Kultur des Landes angepasst sind. Doch warum ist das so bedeutsam? 

Interkulturelle Kompetenz und Ihre Relevanz in der Praxis

Versetzen wir uns einmal in die Lage der fiktiven Person „Kim“, welche im globalen Recruiting eines internationalen Unternehmens arbeitet. Im Rahmen einer Produktentwicklung für den chinesischen Markt soll Kim eine*n Projektmanager*in am chinesischen Standort einstellen. Kim hat bereits mehrfach ähnliche Positionen in Deutschland besetzt und überlegt daher, die dafür entwickelten Diagnostikinstrumente auch in diesem Prozess anzuwenden. Im Austausch mit dem HR Business Partner des chinesischen Standorts wird jedoch schnell klar, dass dies nicht so einfach möglich ist. In China liegt eine andere Arbeitskultur vor, weshalb auch die Anforderungen an Projektmanager*innen in China andere sind als an Projektmanager*innen am deutschen Standort. Kim wird klar, dass es zunächst wichtig ist, Wissen über die chinesische Kultur und Arbeitsweise aufzubauen, um einen fairen und aussagekräftigen Auswahlprozess durchführen zu können. In diesem Zusammenhang ist die Interkulturelle Kompetenz von großer Bedeutung. Unter dem Begriff versteht man Wissen um und Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven, um eine Situation richtig einzuschätzen zu können und das eigene Verhalten entsprechend anzupassen (Genkova, 2019).

Kulturelle Prägungen verstehen – Hofstedes Kulturdimensionsansatz

Um die kulturellen Ausprägungen zu verstehen, ist es hilfreich, die Kulturdimensionen heranzuziehen. Der niederländische Kulturwissenschaftler und Sozialpsychologe Geert Hofstede stellte hierfür 1980 auf Basis groß angelegter wissenschaftlicher Studien einen Kulturdimensionsansatz mit zunächst vier Basisdimensionen auf, in denen sich Kulturen unterscheiden. Diese wurden zunächst um eine weitere Dimension ergänzt und schließlich 2010 noch um eine sechste Dimension (Hofstede 2006; Hofstede Insights, 2024a): 

  • Individualismus (vs. Kollektivismus): Wie stark stehen in einer Gesellschaft Eigeninteressen des Individuums oder Interessen der Gruppen im Vordergrund?
     
  • Machtdistanz: In welchem Ausmaß ist die Hierarchie einer Person von Bedeutung für deren Machteinfluss gegenüber anderen Personen? Inwieweit wird autoritäres Handeln geduldet und gefordert?
     
  • Maskulinität (vs. Femininität): In welchem Ausmaß sind in einer Kultur Geschlechterrollen von Bedeutung? 
     
  • Unsicherheitsvermeidung: Wie risikobereit und offen für Innovationen bzw. sicherheitsbedürftig sind die Personen einer Kultur?
     
  • Langfristigkeit (vs. Kurzfristigkeit): Inwiefern sind Gesellschaften darauf ausgerichtet eher kurzfristigen Erfolg oder langanhaltende Lösungen zu erzielen? 
     
  • Genussorientierung: In welchem Ausmaß ist die freie Auslebung der eigenen, individuellen Bedürfnisse innerhalb einer Gesellschaft akzeptiert? (2010 hinzugefügt).

Hofstedes Kulturdimensionen gelten bis heute als grundlegend für die Unterscheidung von Kulturen und sind von hoher Relevanz für Forschung und Praxis. Zahlreiche Praxisratgeber für interkulturelle Situationen orientieren sich an seinem Modell und Erkenntnissen (Genkova, 2019; Kempten et al. (2020)). Zieht man das Modell für die Beispielsituation heran, ergibt sich folgendes Bild hinsichtlich der Ausprägung der Dimensionen der deutschen und chinesischen Kultur:

Hier zeigen sich insbesondere Unterschiede in der Machtdistanz sowie bzgl. des Individualismus und der Unsicherheitsvermeidung. 

Insbesondere die ersten beiden Aspekte sind für das Fallbeispiel relevant. Die eher niedrige Ausprägung des Individualismus in China zeigt, dass die chinesische Kultur stark kollektivistisch orientiert ist und somit das Gruppeninteresse von höherer Bedeutung ist als individuelle Ziele. Dies ist beim Management von Projekten z. B. in der Aufgabenverteilung und der Rückmeldung zu Ergebnissen von Bedeutung. In China steht die Projektgruppe im Gesamten deutlich mehr im Fokus als die Beiträge einzelner Mitglieder. Zudem ist die Machtdistanz in China hoch ausgeprägt. Personen in Führungspositionen, sprich mit formeller Autorität, erwarten Respekt und Achtung von Personen in niedriger Ebene. Umgekehrt wird von solchen Personen erwartet, dass sie Durchsetzungsstärke besitzen und Autorität ausstrahlen. Gleichzeitig ist es hinsichtlich eines erfolgreichen Abschlusses des Projektes wichtig, dass solche Personen Reflexionsfähigkeit und Weitsichtigkeit mitbringen, um der eher hohen Risikobereitschaft entgegenzuwirken. Diese ergibt sich aus der niedrigen Ausprägung der Unsicherheitsvermeidung (Kuhn & Fekete, 2019; Hofstede Insights, 2024b).

Umsetzung in der Praxis – Der kulturelle Kontext beim Einsatz von Methoden der Eignungsdiagnostik

Mit diesem Wissen kann Kim nun zum einen das Anforderungsprofil anpassen und zum anderen überlegen, welche Diagnostikmethoden geeignet sind. Wie bereits mitschwingt, sind dabei auch die Persönlichkeitseigenschaften (wie Durchsetzungsstärke und Selbstbewusstsein) von Bedeutung. Persönlichkeit ist nach Asendorpf (2018, S. 5) „die Gesamtheit aller individuellen Besonderheiten, in denen sich jemand von Gleichaltrigen derselben Kultur unterscheidet“. Asendorpf (2018) weist darauf hin, dass das Umfeld mit den kulturell spezifischen Handlungsweisen, Riten und Werten in den ersten Lebensjahren von großer Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit ist. Auch Genkova (2019, S. 228) betont, dass „systematische Unterschiede zwischen Personen verschiedener Kulturen sich aus Unterschieden in den externalen Einflüssen [ergeben]“ und „somit davon ausgegangen werden [muss], dass Persönlichkeitsdimensionen abhängig vom kulturellen Kontext sind“. Dies sollte beim Einsatz von Persönlichkeitsfragebögen für berufliche Auswahl- und Entwicklungsprozesse mitberücksichtigt werden. Es wäre nicht sinnvoll, einen Fragebogen mit deutscher Normierung in China anzuwenden. Dies würde bedeuten, dass man das Ergebnis eines*r chinesischen Bewerbers*in mit der Ausprägung der Persönlichkeitsdimensionen der deutschen Bevölkerung vergleicht. Aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Prägung sind die Persönlichkeitseigenschaften in China aber im Durchschnitt anders ausgeprägt. Bei der Wahl eines Fragebogens ist also immer zu beachten, inwieweit dieser auch auf die entsprechende Kultur der Zielgruppe passt bzw. hierfür zur Kultur passende Normwerte (sprich Vergleichswerte) vorhanden sind (Genkova, 2019). Beispiele für Persönlichkeitsfragebögen mit einer Vielzahl an länderspezifischen Normgruppen sind das Bochumer Inventar für berufsbezogene Persönlichkeit (BIP©) und das NEO-Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae (NEO-PI-R). Das Team von Hogrefe Consulting unterstützt Sie gerne bei der Wahl eines geeigneten Fragebogen für Ihre Organisation oder auch der Konstruktion eines Auswahl- oder Entwicklungsprozesses. Weitere Informationen dazu finden Sie hier. 

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Beachtung der Kultur einer Person im Bereich der Eignungsdiagnostik von hoher Relevanz ist, um die richtigen Anforderungen zu definieren und passende Auswahlprozesse zu gestalten. Basis hierfür ist, dass Recruiter*innen Wissen über die kulturellen Ausprägungen haben und dieses auf den jeweiligen Kontext auch anwenden können. Da die kulturelle Prägung auch auf unsere Persönlichkeit und andere personenbezogenen Variablen einwirkt, ist bei der Wahl von Fragebögen und Testverfahren stets die Passung zur Kultur der Zielgruppe zu berücksichtigen. 

Literatur:

Asendorpf, J.B. (2018). Persönlichkeit. Was uns ausmacht und warum. Berlin: Springer-Verlag GmbH. 
doi.org/10.1007/978-3-662-56106-5

Genkova, P. (2019). Interkulturelle Wirtschaftspsychologie. Berlin: Springer-Verlag GmbH. 
doi.org/10.1007/978-3-662-58447-7

Hofstede, G (2006). Lokales Denken, globales Handeln. München: dtv.

Hofstede Insights (2024a). Intercultural Management – What you need to know. Online: 
hi.hofstede-insights.com/national-culture (Abgerufen am 08.04.2024).

Hofstede Insights (2024b). Country Comparison Tool. Online: https://www.hofstede-insights.com/country-comparison-tool?countries=china%2Cgermany (abgerufen am 08.04.2024).

Kempten, R.; Schuhmacher, S.; Engel, A.M.; Hollands, L. (2020). Interkulturelle Trainings planen und durchführen. Göttingen: Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG. 
doi.org/10.1026/03029-000

Kuhn, K., Fekete, P. (Hrsg.) (2019). Literatur- und Forschungsstand. In: Deutsch-chinesische Studienangebote erfolgreich managen, S. 47-58. Wiesbaden: Springer Gabler. 
link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-23534-5_3