work & care – wie sich Angehörigenpflege und Erwerbstätigkeit vereinbaren lassen

Written on 7/20/23

Erwerbstätige, die für kranke, beeinträchtigte oder hochbetagte Angehörige sorgen müssen, sind stark gefordert und oft an der Belastungsgrenze. Wie man Sorgeverantwortung und Berufstätigkeit kompetent vereinbaren kann, vermittelt Privatdozentin Dr. Iren Bischofberger in Ihrem Buch „work & care – Auf dem Weg zur Vereinbarkeitskompetenz“. Wir haben mit der Autorin über die vielschichtigen Aspekte des Themas gesprochen.

Erwerbstätige pflegende Angehörige waren lange nicht auf der politischen Agenda, sie waren „unbezahlt und unsichtbar“. Hat sich dies geändert und in welcher Form? Wie sehen Sie die Entwicklung?

Im deutschsprachigen Raum wurden die pflegenden Angehörigen interessanterweise gerade wegen ihrer Erwerbstätigkeit sichtbarer, obwohl es die weitgehend unsichtbare Bevölkerungsgruppe der Angehörigen seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten gibt. Dafür sind drei Treiber sind dafür zentral:

  • Seit ungefähr den 1960er Jahren werden in der Wissenschaft die Langlebigkeit diskutiert und wie eine Gesellschaft des langen Lebens die Pflege im Alter gestaltet – vor allem im Privathaushalt, wo die Mehrheit der Bevölkerung bis zum Tod leben möchte.
  • Immer mehr Behandlungen werden vom Krankenhaus, wo hohe finanzielle und personelle Mittel zur Rettung von Leben zur Verfügung stehen, in den Privathaushalt verlagert. Hier sind die häusliche Pflege, Arztpraxen etc. bei umfangreichen Beeinträchtigungen und Therapien aber finanziell, personell und strukturell nicht darauf ausgerichtet, zeitintensive Versorgung über lange Zeit hinweg kontinuierlich, koordiniert und finanziell tragbar für die breite Bevölkerung zu übernehmen. Im Gegenteil: Das Konstrukt der häuslichen Pflege ist als Unterstützung der Angehörigen für die Ausübung von Pflegeaufgaben positioniert und nicht als ihr Ersatz, damit sie erwerbstätig sein können.
  • Schließlich erhält „work & care“ mehr Aufmerksamkeit wegen der steigenden Erwerbstätigkeit der Frauen (und langsam zunehmend auch dem Wunsch der Männer nach Teilzeitarbeit) und kleineren Familien, die über den Erdball verstreut leben.

All diese Treiber führen zu mehreren knappen Ressourcen: die unbezahlte Sorgearbeit, das Erwerbspotenzial bei steigendem Fachkräftebedarf und die Finanzierung der Langzeitpflege durch die Kommunen. Umfangreiche stationäre Langzeitpflege, damit Angehörige erwerbstätig sein können, wäre für Kommunen aber unbezahlbar. Und in Pflegezentren arbeiten notabene vor allem Frauen, die in der bisherigen Arbeitsteilung in Familien oft selber private Sorgearbeit für kranke oder beeinträchtigte Nahestehende leisten. Kurzum: work & care ist ein ausgesprochenes Schnittmengenthema.

 

Wir werden immer älter und im hohen Alter gebrechlicher. Auch bei Gesundheitseinschränkungen in jüngeren Jahren leben wir dank medizinischem Fortschritt länger, aber mit Unterstützungsbedarf. Was bedeutet das für die pflegenden Angehörigen und ihre Erwerbstätigkeit?

Der medizinische Fortschritt ist ein ambivalenter Prozess. Einerseits ist er Ausdruck einer prosperierenden Wirtschaft und Gesellschaft. Und neue Behandlungsformen erleichtern die Genesung, z. B. sind wir durch die Knopfloch-Chirurgie schneller und mit weniger Schmerzen wieder unabhängig.

Andererseits wird heute viel mehr diagnostiziert, therapiert und rehabilitiert. So leben auch Menschen mit Geburtsgebrechen, nach Unfällen oder mit chronischen Krankheiten viel länger – oft Jahre und Jahrzehnte. Sie benötigen teils äußerst zeit- und materialintensive Pflege und Begleitung. Auch Krankheiten mit vermeintlich geringerem Unterstützungsbedarf fordern die Betroffenen und Angehörigen, denn der Gesundheitsmarkt bringt immer häufiger, schneller und entlang der gesamten Lebensspanne (vorgeburtlich bis ins hohe Alter) neue diagnostische und therapeutische Verfahren hervor. Daran müssen sich Betroffene und Angehörige ständig neu anpassen: mehr Kontrollbesuche in der Arztpraxis oder im Krankenhaus (mit Reise- und Wartezeiten verbunden), mehr Koordination und Administration (als inoffizielle Case Manager), Medikamentenwechsel (Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen), Apparaturen (mit Unterhaltsbedarf), Software (mit Supportbedarf), Wohnungsumbau (mit Finanzbedarf) usw. Gleichzeitig hält die hoch regulierte Gesundheitsversorgung mit den Neuerungen kaum Schritt, z. B. steckt die zeit- und geldsparende digitale Versorgung im Privathaushalt (Sensorik zur Herzüberwachung, Bluetooth Stethoskop oder Otoskop etc.) noch in den Kinderschuhen.

In der Kurzformel heißt das: Der medizinische Fortschritt erblüht und die Mittel für dessen Konsequenzen verglühen.

 

Oft nimmt der Unterstützungsbedarf im hohen Alter zu. Welche Konsequenzen hat die Erhöhung des Renteneintrittsalters?

Ich bin sehr erstaunt, dass in der Schweiz die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre völlig abgekoppelt von „work & care“ diskutiert wurde  – dies notabene von demselben Parlament, das 2019 ein paar Verbesserungen für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung eingeführt hat. Denn die Rentenaltererhöhung von 64 auf 65 – oder wie in Deutschland bis 67 Jahre – bedeutet, dass die Eltern der Erwerbstätigen im gebrechlichen Alter (85+) sind. Ein Jahr Rentenalter Erhöhung führt deshalb zu einem exponentiellen Anstieg von Vereinbarkeitsanforderungen. Das muss Betrieben, Politik und letztlich der Gesellschaft noch viel bewusster werden. Deshalb müssen wir mit dem höheren Rentenalter auch die Vereinbarkeitsarrangements verbessern: Betriebe können z. B. mit Tagesstätten für hochaltrige Menschen oder mit häuslichen Pflegediensten kooperieren. Auszeiten für Erholung oder pflegerische Aufgaben müssen geschaffen und finanziert werden. Außerhalb der Betriebe braucht die gemeindenahe Gesundheitsversorgung einen durchdachten Angebotsmix jenseits der traditionellen Pflegeheime, z. B. mit integrierten intergenerationellen Wohn- und Pflegeformen, Care Farming, Assistenz bei Behinderung, Case Management usw.

 

Ist work & care ein Genderthema? Was müsste man im Blick halten, damit Care-Arbeit von allen geleistet und gerecht verteilt werden kann?

Ja, es ist ein Genderthema – denn sowohl erwerbstätige Frauen als auch Männer sind von der Vereinbarkeit betroffen. Noch immer wird Sorgearbeit für kranke und hochaltrige Nahestehende aber vor allem den Frauen zugeschrieben. Allerdings gibt es immer mehr alleinstehende Männer aus kleiner werdenden Familien, die weniger als bisher auf Ehe- oder Lebenspartnerinnen, Schwägerinnen oder Schwestern zurückgreifen können. Auch spielt das gesellschaftliche Denken eine wichtige Rolle. Denn Männer greifen eher auf Pflegezentren zurück, um die Care Arbeit mit Angehörigen zu bewältigen (oder dies wird ihnen vorgeschlagen), während Frauen eher (oder zumindest teilweise) die Pflege selbst übernehmen. Sie haben so ein viel engeres Zeitbudget für Pflege und Beruf.

Auch zeigt die Rentenaltersdiskussion, dass Frauen von einer Erhöhung besonders betroffen sind. Denn aufgrund des Gender Pay Gaps können sie sich Frühpensionierungen seltener leisten. Sie müssen die Vereinbarkeit deshalb länger arrangieren als Männer. Auch verfügen Frauen über weniger finanzielle Mittel, um z. B. eine Care Migrantin mit fairem Lohn für ihre Nächsten anzustellen.

 

Was versteht man unter Vereinbarkeitskompetenz und wie kann sie erreicht werden?

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es keine eindimensionale Lösungen gibt. So greifen Teilzeitarbeit und Flexarbeit nur bedingt. Die Einflüsse sind zu vielfältig. Wenn z. B. in Betrieben „work & care“ kein Thema ist, sind betriebliche und individuelle Lösungen nur schwer möglich. An einer gelebten Offenheit – ohne jedoch als Mitarbeitende Krankheitsdiagnosen der Nahestehenden nennen zu müssen – kommt man nicht vorbei.

In der Gesundheitsversorgung ist zudem eine Vereinbarkeitslogik nötig, um die Bedürfnisse der erwerbstätigen Angehörigen besser zu berücksichtigen, dies ergänzend zur bestehenden Versorgungslogik mit Blick auf Patientinnen und Patienten. Das heißt z. B., dass Teams mit Entlassungsterminen und Kommunikationsmitteln auf die Erwerbstätigkeit der Angehörigen Rücksicht nehmen, denn der Beruf ist in vielen Fällen ein wichtiger sozialer und finanzieller Rückhalt. Schon die Frage an Angehörige „Sind Sie berufstätig?“ zeigt Sensibilität für das Thema.

Vereinbarkeitskompetenz heißt also: Zusammenhänge verstehen, Aufmerksamkeit schaffen und umsichtig handeln. All die thematischen Stränge in der Arbeitswelt, in der Gesellschaft und im Sozial- und Gesundheitswesen führen bei der Vereinbarkeitskompetenz bildhaft zu einem Seil, an dem man sich im Erwerbs- und auch im Privatleben orientieren kann.

 

PD Dr. Iren Bischofberger, geb. 1965, lebt in Aarau/Schweiz. Sie ist habilitierte Pflegewissenschafterin und Privatdozentin an der Universität Wien. Sie leitete an der Careum Hochschule Gesundheit von 2007–2022 das Forschungs- und Entwicklungsprogramm „work & care – Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege vereinbaren“ und den Studiengang MSc in Nursing. Seit 2022 ist sie Inhaberin der Firma rethinking care GmbH (www.rethinking.care) mit einem Schwerpunkt auf  „work & care“ im Personal- und Gesundheitsbereich (www.workand.care).