Die ressourcen- und personzentrierte Hilfe- und Förderplanung gehört in der Eingliederungshilfe für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zum State of the Art, ist aber für viele Praktiker*innen ein Buch mit sieben Siegeln. Eva Kraus und Prof. Dr. Markus Witzmann wollen mit dem Buch „ICF-basierte Förder- und Teilhabeplanung für psychisch kranke Menschen“ Licht ins Dunkel bringen. Christoph Müller, Pflegefachperson, Autor, Dozent und Gastgeber in „Christophs Pflege-Café“, hat mit den beiden Autor*innen gesprochen.
Mit dem Buch „ICF-basierte Förder- und Teilhabeplanung für psychisch kranke Menschen“ wenden Sie den Blick auf die Eingliederungshilfe. Wieso ist dieser Blickwechsel für die Versorgung seelisch erkrankter Menschen so wichtig?
Die Unterstützungs-/Assistenzangebote für Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind in Deutschland sehr vielfältig und haben unterschiedliche Schwerpunkte bzw. Zielrichtungen. Zum Beispiel geht es in der klinisch-psychiatrischen Versorgung hauptsächlich um die Behandlung akuter psychischer Krisen. In der Eingliederungshilfe geht es um die Unterstützung zur gesellschaftlichen Teilhabe und bestmöglichen Erlangung einer selbstbestimmten Lebensführung als normatives Ziel. Um dieses Ziel verfolgen zu können, müssen immer wieder verschiedene Aspekte in den Blick genommen werden: Worin genau besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Einschränkung in der gesellschaftlichen Teilhabe und was gelingt bereits? Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle? Über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt eine Person, aber auch welche Beeinträchtigungen liegen vor? Was bringt eine Person – jenseits ihrer Erkrankung – mit? Welche Hindernisse, aber auch Chancen bietet das soziale Umfeld? Das heißt, ein Teil der Menschen mit einer psychischen Erkrankung ist neben einer medizinischen/psychotherapeutischen Behandlung auch auf Unterstützungs-/Assistenzleistungen auf Zeit oder Dauer der Eingliederungshilfe bzw. auf Reha-Leistungen angewiesen.
Beim ICF geht es um die Klassifikation der Funktionsfähigkeit, der Behinderung und der Gesundheit. Was ist der Nutzen davon, dass für das Leben außerhalb von Klinikmauern ein weiteres Arbeitsinstrument gelebt wird?
Wir verstehen die ICF nicht in erster Linie als Arbeitsinstrument, sondern eher als Grundlage, auf der dann Instrumente entwickelt werden müssen. Zentral ist, die Intention der ICF zu verstehen und sich daran auszurichten. Idealerweise würde dies bereits innerhalb der klinischen bzw. der ambulanten psychiatrischen Akutversorgung oder in Reha-Einrichtungen erfolgen, sodass Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe direkt daran anknüpfen können. Wenn ICF basierte Arbeitsinstrumente ‚gut gemacht‘, d.h. auf einer wissenschaftlichen Grundlage mit gelungenem Praxistransfer entwickelt wurden, dann unterstützen sie den systematischen Blick auf die Funktionsfähigkeit einer Person in ihrer aktuellen Situation unter Einbeziehung von Hürden und Förderfaktoren aus der Gesellschaft bzw. Umwelt. Daraus lassen sich dann mit der betroffenen Person verstehbare und mitgetragene Ziele und Maßnahmen verhandeln, die auch eine Realisierungsperspektive haben. Dabei geht es allerdings nicht immer nur um ‚besser, höher, weiter‘, sondern manchmal auch darum, eine individuell bestmögliche Lebenssituation zu erhalten, also zu stabilisieren. Auch das lässt sich über die ICF gut darstellen.
In der Bundesrepublik hat die Integration seelisch erkrankter Menschen einen schweren Stand, obwohl vor wenigen Jahren das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) die Missstände in der Begleitung seelisch erkrankter Menschen reduzieren wollte?
Im internationalen Vergleich finden wir unser sozialpsychiatrisches Versorgungssystem gut aufgestellt. Es gibt zwar viele regionale Unterschiede, die mitunter von den jeweiligen Zuständigkeiten, dem Engagement relevanter Akteure sowie der Verfügbarkeit von Ressourcen abhängig sind, aber z.B. in Bayern haben wir eine gute sozialpsychiatrische, regional verfügbare Basisversorgung aufgebaut. Aktuell beschäftigt uns eher die Frage, ob wir diese angesichts des Fachkräftemangels so halten können, aber das ist ein anderes Thema.
Natürlich treffen wir in der Praxis überall dort, wo wir gesellschaftliche Teilhabe konkret umsetzen wollen, auch auf Hindernisse oder Barrieren. Zum Beispiel gibt es immer wieder mal Beschwerden aus der Nachbarschaft unserer ambulant betreuten Wohngemeinschaften. Andererseits gibt es auch Beispiele, in denen ein nachbarschaftliches Miteinander richtig gut funktioniert. Wir erfahren immer noch Vorbehalte gegenüber psychisch erkrankten Menschen und erleben ab und an, dass aufgrund falscher Vorstellung weiterhin Begegnungsängste bestehen bzw. eher auf Selektion als auf Inklusion gesetzt wird. Wir müssen aktiv Meinungsbildung unterstützen, Vorbehalte abbauen und Informationen bereitstellen, um gute gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu gestalten für ein erfolgreiches inklusives Miteinander.
Wie weit sich eine gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit einer psychischen Erkrankung aktuell in Deutschland umsetzen lässt, ist für uns letztlich eine Frage dessen, wie es der Gesellschaft und jedem Einzelnen gelingt, sich zu öffnen, den Wandel zu einer inklusiven Gesellschaft zuzulassen, auch diesen mitzugestalten, wie hoch die Bereitschaft zur Toleranz ist und wie viel wir bereit sind, dafür zu investieren, also auch Ressourcen für einen Wandel bereitzustellen. Hierzu gäbe es noch viel zu sagen. Natürlich hängt eine gelingende Teilhabe auch davon ab, wie sich Menschen mit einer psychischen Erkrankung selbst einbringen möchten und inwieweit sie dies auch können. Es geht auch darum, wie sehr sie selbst bereit sind, sich für ein gesellschaftliches Miteinander zu engagieren und ihren Beitrag zu einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu leisten, sei es durch ehrenamtliche Tätigkeiten, Selbsthilfeaktivitäten, Aufklärungsarbeit, die aktive Beteiligung an Interessensvertretungen oder auch einfach nur in zwischenmenschlichen alltäglichen Begegnungen. Auch hier kennen wir eine Bandbreite von Lebensgeschichten und Personen, in denen das nicht so sehr der Fall ist oder andere, wo das richtig gut gelingt.
Wer sich in den ICF hineinarbeitet, der wird schnell Begriffen wie Bedarfsanalyse, Bedarfsermittlung, Bedarfsfeststellung und Bedarfsdeckung begegnen. Können Menschen in der Versorgung vor Ort ICF-Begrifflichkeiten praktisch übersetzen? Oder gibt es da denn immer wieder auftauchenden Theorie-Praxis-Graben?
Ja, wir würden schon sagen, dass es einen Theorie-Praxis-Graben gibt. Wenn man sich nur oberflächlich mit der ICF beschäftigt, könnte man sie als eine Art ‚Checkliste in komplizierter Sprache‘ missverstehen, in der kein praktischer Mehrwert liegt. Unsere Arbeit in der Sozialpsychiatrie besteht viel aus Unterstützung im Alltag, Beziehung aufbauen, gestalten und auch wieder loslassen, in flexiblem Eingehen auf sich aktuell ergebende Situationen usw. Aber es braucht es auch einen gemeinsamen Weg, den die beteiligten Personen miteinander beschreiten wollen, Ziele, an denen gemeinsam gearbeitet wird, eine Art Roter Faden – und dass dieser verhandelt, geplant, umgesetzt und reflektiert wird. Richtig verstanden und eingesetzt kann die ICF nicht nur für die direkte Förderplanung (Behandlungs- und Teilhabeplanung) genutzt werden, sondern auch um einen erweiterten Blick auf die zu begleitende Person zu bekommen – in dem man sich z.B. auch mal genau fragt, welche Eigenschaften eine Person jenseits ihrer Erkrankung hat. Klient*innen wiederum erleben dann, dass man sich wirklich für sie interessiert, sich gemeinsam auf die Suche nach dem richtigen Weg, nach den nächsten Schritten und die damit einhergehenden Aufgaben macht. In der Reflexion wird gewürdigt, was erreicht wurde und gemeinsam überlegt, ob es nun so gut ist oder ob der Weg noch weiter begangen werden soll.
Um die ICF so in der Praxis einzusetzen, braucht es allerdings eine intensive Auseinandersetzung mit dem zugrunde liegenden Konzept, der Systematik, der Sprache, der Intention der ICF und den Möglichkeiten eines adäquaten Einsatzes im jeweiligen Praxisfeld. Das versuchen wir, in Schulungen, Workshops, Fachforen, Fallbesprechungen, also über Kompetenzvermittlung, Erfahrungsaustausch und gemeinsame Reflexion im Dialog mit den Fachkolleg*innen zu erreichen.
Ein Beitrag des Buchs nimmt den ICF in der kollegialen Fallbesprechung unter die Lupe. Diese Sicht hat einen eigenen Reiz. Was macht die Attraktivität der Idee aus, eine Klassifikation in ein Entwicklungsinstrument einzubauen?
Die ICF bietet eine Grundlage für ganz unterschiedliche Instrumente und Anwendungsmöglichkeiten. Eine von vielen ist es, die ICF in eine kollegiale Fallberatung einzubauen. Manchmal laufen solche Besprechungen eher unstrukturiert ab und dann besteht das Risiko, dass man sich schnell auf eine These, ein Problem oder eine ‚Wahrheit‘ einigt, anderes ausblendet, zu eindimensional wird und sich ‚im Kreis dreht‘. Die Struktur z.B. einer Itemliste oder des Konzepts der ICF unterstützt uns, den Blick zu erweitern. Da die ICF sich immer auf ein konkretes Teilhabeziel oder auf einen Teilhabebereich bezieht, muss sich zunächst einmal darauf verständigt werden. Manchmal stellt sich dann in einer Fallberatung heraus, dass das Teilhabeziel, das die Fachkraft verfolgt, für den Klienten gar nicht wichtig ist. Ein anderes Beispiel: Man ist sich im Kollegenkreis einig, dass das Umfeld einer Klientin nur schädigend ist. Anhand der Itemliste kann man dann gezielt danach suchen, ob es auch Förderfaktoren in diesem Umfeld gibt. Manchmal stellen wir mithilfe einer ICF Itemliste auch fest, dass zu einzelnen Aspekten die Fachkraft gar keine Einschätzung treffen kann, weil sie dazu zu wenig weiß. Dann ist das ein guter Impuls für die weitere Bezugspersonenarbeit und / oder sich noch intensiver mit den personenbezogenen Faktoren und Umweltbedingungen auseinanderzusetzen.
Wie geht es mit der ICF-Klassifikation weiter? Wie schaffen es die unterschiedlichen Versorgungssettings für seelisch erkrankte Menschen zu einer gemeinsamen Sprache bei einer unterschiedlichen Klassifikation?
Nun, das lässt sich nicht so einfach sagen. Es gibt die verschiedensten Entwicklungsstränge auf internationaler und nationaler Ebene, ebenso in den jeweiligen Versorgungskontexten und Praxisfeldern. Z.B. läuft in der WHO seit einigen Jahren der Update-Prozess zur ICF mit dem Ziel, die bisher fehlenden Teile aus einer Spezifikation für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) in die ICF zu integrieren. Offen ist weiterhin, ob es für die personenbezogenen Faktoren eine Teilklassifikation geben soll. Die Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) hat hierzu eine Empfehlung gemacht. Es gibt keine Anzeichen, dass am bio-psycho-sozialen Modell der ICF etwas grundsätzlich geändert werden soll. Die Umsetzung des BTHG fordert alle Rehabilitationsträger auf, mit der ICF zu arbeiten und diese in die Versorgungsprozesse zu integrieren. Im SGB IX werden die Instrumente zur Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe explizit auf die ICF bezogen und seit Jahren laufen hierzu Aktivitäten der Umsetzung in den jeweiligen Bundesländern, bei den zuständigen Rehaträgern, wie der Eingliederungshilfe. In unserem Buch stellen wir die Grundlagen der ICF und die Entwicklungsstränge dieser in verschiedensten Praxisfeldern der Sozialpsychiatrie vor. Es lohnt sich also, sich damit auseinanderzusetzen und wir empfehlen allen Fachkräften, sich mit der ICF und den damit einhergehenden Möglichkeiten in der Praxis zu beschäftigen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Eva Kraus, Sozialpädagogin, Master Mental Health, Innovations-Coach, ist tätig als Abteilungsleitung Sozialpsychiatrie und Prokuristin in der kbo Sozialpsychiatrisches Zentrum gGmbH.
Prof. Dr. (phil.) Markus Witzmann, M. A., M. S. M., M. A. ist (Forschungs-)Professor an der staatlichen Hochschule München und dort als Studiengangsleiter des Master Mental Health und Mitglied der Ethikkommission tätig. Er war viele Jahre bei einem Leistungsträger als Qualitätssicherungsbeauftragter für die psychiatrische Versorgung sowie als Geschäftsführer von Angeboten der außerklinischen sozialpsychiatrischen Versorgung und ambulant psychiatrischen Pflege aktiv.