Ethik in der Psychotherapie

Veröffentlicht am 8/21/23

Ethische Fragen ergeben sich in der Psychotherapie bei den unterschiedlichsten Themen: Von der informierten Einwilligung in die Therapie über die Vertraulichkeitspflicht, Interessenskonflikte und Grenzen der therapeutischen Beziehung bis hin zu Klinikeinweisungen gegen den Willen des Patienten. Immer wieder läuft es auf die eine Frage hinaus: Wie verhält sich ein guter Psychotherapeut in dieser Situation moralisch richtig?

Wir haben mit PD Dr. Dr. Manuel Trachsel gesprochen, der sich seit Langem mit dem Thema beschäftigt und den Band "Psychotherapie-Ethik" mitverfasst hat.

Psychotherapeuten unterliegen der Vertraulichkeitspflicht (Schweigepflicht). Aber es gibt auch Situationen, in denen sie ihr Schweigen brechen müssen, oder?
Auf Seiten der Psychotherapeuten ist Vertraulichkeit eine Pflicht und für die Patienten ist sie ein Recht. Sie ist eine zentrale Grundlage dafür, dass sich eine starke und tragfähige Therapiebeziehung als Basis einer wirksamen Psychotherapie entwickeln kann.
Diese Pflicht und dieses Recht sind jedoch nicht absolut. Bestimmte Situationen erfordern aus ethischen und/oder rechtlichen Gründen, dass die Vertraulichkeit aufgehoben wird, vor allem dann, wenn sie in Konflikt zu anderen wichtigen Rechtsgütern oder Interessen der Allgemeinheit steht, die im konkreten Fall stärker gewichtet werden. Ein Beispiel ist die Meldepflicht bei einer Kindeswohlgefährdung. Solche Ausnahmen sind aus ethischen Gründen ebenso wichtig wie das Gebot der Vertraulichkeit selbst.
 

Gibt es Personengruppen, die ein Psychotherapeut grundsätzlich nicht behandeln sollte, wie zum Beispiel Verwandte, Freunde oder Kollegen?
Die psychotherapeutische Behandlung einer Person ist aus ethischer Sicht immer dann heikel, wenn sich der Psychotherapeut in einem Interessenkonflikt befindet. Eine besonders delikate Form davon sind sogenannte Mehrfachbeziehungen, z.B. wenn der Psychotherapeut

  1. gleichzeitig in einer anderen Beziehung zum Patienten steht, d.h. ihm gegenüber eine zusätzliche, nicht therapeutische Rolle innehat.
  2. gleichzeitig in einer (Therapie-)Beziehung zu einer verwandten oder anderweitig nahestehenden Person des Patienten steht.

Mehrfachbeziehungen und andere Überschreitungen der üblichen therapeutischen Beziehungsgrenzen können dem Patienten schaden, müssen es aber nicht. Gezielte Überschreitungen können sogar nützlich für den Therapieerfolg sein. Allerdings ist es zentral, dass jeder Überschreitung therapeutisch durchdachte Überlegungen vorausgehen und der potentielle Interessenkonflikt dem Patienten gegenüber offengelegt wird.

 

Die Beziehung zum Patienten

Sexuelle Beziehungen zu Patienten sind ausgeschlossen. Aber sollten gewisse körperliche Berührungen in der Psychotherapie nicht auch Platz haben?
In der Ethik gibt es selten moralisch eindeutig richtiges oder falsches Verhalten. Sexuelles Verhalten von Psychotherapeuten gegenüber Patienten ist aber ein klares moralisches „No-Go“ und stellt immer einen Missbrauch dar.
Die zentrale Frage ist, wann eine Berührung „sexuell“ ist. Das ist der Fall, wenn körperliche Berührungen mit der Intention ausgeführt werden, die eigene Erregung zu steigern oder eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen.
Moralisch gerechtfertigt sind nicht sexuelle Berührungen außerdem nur dann, wenn sich der Psychotherapeut bewusst, aufgrund nachvollziehbarer psychotherapeutischer Überlegungen und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Patienten dafür entscheidet. Ein Beispiel ist eine Berührung an der Schulter oder der Hand, um einem trauernden Patienten beizustehen.

Aber kann es nicht sein, dass sich ein Psychotherapeut sexuell von Patienten angezogen fühlt oder sich tatsächlich einmal in eine Patientin verliebt?
Sexuelle Anziehung zwischen Psychotherapeuten und ihren Patienten gilt als universelles Phänomen. Studien zeigen, dass zwischen 80 und 90 Prozent der Psychotherapeuten in ihrem Berufsleben mindestens einmal eine sexuelle Anziehung zu Patienten verspüren. Es kommt jedoch nur bei einer kleinen Minderheit zu sexuellen Handlungen, da Psychotherapeuten in der Regel verantwortungsvoll mit ihren Reaktionen umgehen.
Trotzdem ist es ratsam, dass Psychotherapeuten sich in Supervision begeben, um den eigenen Umgang mit der sexuellen Anziehung zu besprechen. Verliert ein Psychotherapeut die therapeutischen Bedürfnisse des Patienten aus den Augen, kann er sich emotional nicht distanzieren oder verliebt sich sogar, ist meistens ein Wechsel des Psychotherapeuten angezeigt.

 

Moral- und Wertevorstellungen in der Therapie

Was tun, wenn sich moralische Werte kulturell unterscheiden? Wenn ein muslimischer Patient bei einer freiwilligen Behandlung in einer Klinik z.B. darauf besteht, nur von einem Mann behandelt zu werden?
Die zentrale Frage ist, wie weit sich Psychotherapeuten an andere Moral- und Wertevorstellungen anpassen sollen. Kultur kann als Aggregat geteilter Bedeutungen und Symbolsysteme wie Sprache, regionale Herkunft, religiöser oder sozialer Hintergrund verstanden werden, die ein soziales Leben erst möglich machen. In der Psychotherapie ist daher ein minimaler gemeinsamer Nenner bezüglich der moralischen Werte von Therapeuten und Patienten notwendig.
Psychotherapie ist jedoch nie nur eine Interaktion zwischen Therapeut und Patient, sondern findet inmitten der Gesellschaft statt; dies gilt insbesondere für Psychotherapie innerhalb einer Klinik. In einer offenen Gesellschaft hat sich deshalb auch die Psychotherapie an zentralen Grundsätzen wie Gleichberechtigung der Geschlechter oder Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu orientieren. Werden von Patienten zentrale Werte missachtet und äußern sie sich beispielsweise immer wieder rassistisch, sexistisch oder diskriminierend, ist dies eine Intoleranz, die nicht toleriert werden darf. Jeder Psychotherapeut sollte sich daher überlegen, wo die Grenzen seiner Toleranz liegen.
Um auf das Beispiel in der Frage zurückzukommen: Wenn sich ein muslimischer Patient einen Mann als hauptverantwortlichen Psychotherapeuten wünscht, kann dies wohl meistens ermöglicht werden. Die Voraussetzung ist aber, dass er dem ganzen Team trotzdem respektvoll begegnet, insbesondere auch den weiblichen Fachpersonen. Falls ein Patient sich nicht daran hält, kann dieser Umstand als Anlass genommen werden, mit ihm interkulturelle Differenzen zu diskutieren, um einen verbindlichen "Modus operandi" für den Klinikaufenthalt zu finden. Ist dies nicht machbar, ist eine stationäre Weiterbehandlung auf freiwilliger Basis nicht möglich.

Eine unfreiwillige Klinikeinweisung kann die therapeutische Beziehung zum Patienten sehr belasten. Wie kann man abwägen, ob diese Maßnahme notwendig ist?
Grundsätzlich ist die Selbstbestimmung einer Person ein verfassungsmäßig garantiertes Recht und ein Leitprinzip medizinischer Ethik.
Eine unfreiwillige Klinikeinweisung ist ein schwerer Eingriff in die Grundrechte einer Person, die unter anderem durch die Bundesverfassung, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates gewährleistet sind. Zur Rechtfertigung einer Zwangsmaßnahme bedarf es deshalb neben der genauen Befolgung der gesetzlichen Anforderungen in jedem individuellen Fall einer sorgfältigen ethischen Reflexion.
Obwohl psychologische Psychotherapeuten unfreiwillige Klinikeinweisungen nach aktuell geltendem Recht nicht selbst vornehmen und die Einweisung letztlich durch einen Arzt veranlasst wird, sollte sich jeder Psychotherapeut vor dem Beiziehen eines Arztes die folgenden Fragen stellen:

  • Für wen stellt die Situation ein Problem dar?
  • Besteht Eigen- und/oder Fremdgefährdung?
  • Was soll mit der unfreiwilligen Klinikeinweisung erreicht werden?
  • Ist die unfreiwillige Klinikeinweisung geeignet, um die angestrebten Ziele zu erreichen?
  • Erscheint die unfreiwillige Klinikeinweisung im Interesse der betroffenen Person zwingend nötig oder ist sie unverhältnismäßig?
  • Sind alle weniger einschneidenden Maßnahmen bereits erfolglos eingesetzt oder auf ihre Eignung hin überprüft worden?

Wie kommt es, dass ein so wichtiges Thema wie Ethik in Psychotherapie-Weiterbildungsgängen so wenig Raum einnimmt? Besteht nicht auch "Übungsbedarf" im Umgang mit ethisch schwierigen Situationen?
Jeder Psychotherapeut wird in seinem Alltag unweigerlich mit ethischen Fragen, Problemen und Dilemmata konfrontiert, auf die es keine empirisch validierten Antworten gibt, da es in der Ethik eben gerade um (normative) Wertefragen geht, die über die rein beschreibende (deskriptive) empirische Ebene hinausgehen.
Umso wichtiger ist die ethische Reflexion, die Übung ethischer Argumentation anhand von Fallbeispielen und die Diskussion in der Gruppe mit anderen Psychotherapeuten. Ethische Grundlagen und Fallbesprechungen gehören deshalb in jeden Psychotherapie-Weiterbildungsgang und sollten von ausgewiesenen Fachpersonen unterrichtet werden. Dass Ethik bisher kaum ein integraler Teil von Psychotherapie-Weiterbildungsgängen ist, könnte unter anderem daran liegen, dass primär empirisch validierte „facts“ unterrichtet werden, um die Akkreditierung als Weiterbildungsgang zu erhalten, und dass Ethikkompetenzen als optionale "soft skills" betrachtet werden. Ethikkompetenzen sind jedoch nicht optional, sondern für gute Psychotherapie zwingend notwendig.

Dr. med. Dr. phil. Manuel Trachsel

Privatdozent und Oberassistent am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Ethik und Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie sowie ethische Aspekte am Lebensende und in Palliative Care.