Wertschätzung bei der Arbeit: Weshalb ist das überhaupt relevant?

Veröffentlicht am 7/13/23 von Dr. Alexander Häfner

„Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie sorgfältiger arbeiten müssen? So viele Fehler! Katastrophal. Das könnte meine Tochter besser und die ist in der zweiten Klasse!“ Vor dem versammelten Team gibt die Teamleiterin einer Mitarbeiterin dieses Feedback. Die Mitarbeiterin fühlt sich stark abgewertet. Sie erlebt Scham und Wut.

Doch nicht immer ist Abwertung so offensichtlich. „Mir ist gestern eine gute Idee gekommen, wie wir diesen Prozess effizienter gestalten können. Ich zeige euch das mal …“ Die Teamleiterin unterbreitet ihrem Team mit diesen Worten eine Prozessverbesserung, die von allen sehr positiv aufgenommen wird. Nur einem Kollegen gefrieren die Gesichtszüge. Vorgestern hat er seiner Teamleiterin genau diese Verbesserung vorgeschlagen. Heute sagt seine Teamleiterin kein Wort dazu, dass diese Idee eigentlich von ihm eingebracht wurde. Der Mitarbeiter ist von seiner Teamleiterin enttäuscht, ärgert sich und fühlt sich abgewertet: „Da bringe ich eine gute Idee ein und sie lässt sich dafür feiern.“

Im zweiten Fall wird niemand beleidigt oder öffentlich bloßgestellt. Trotzdem nimmt der Mitarbeiter das Verhalten seiner Führungskraft als abwertend wahr. Leider erleben viele Beschäftigte bei ihrer Arbeit Abwertung. Das ist problematisch, weil wir alle unseren Selbstwert schützen und erweitern wollen. Die beispielhaft skizzierten Ereignisse bedrohen den Selbstwert der Mitarbeitenden und verletzen damit ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Doch warum ist das relevant? Ist es nicht einfach so, dass das Arbeitsleben nun einmal seine Härten hat und Mitarbeitende wohl oder übel einiges einstecken müssen? 

Heute wissen wir, dass erlebte Abwertung bei der Arbeit als Stressor fungiert mit ungünstigen Auswirkungen auf Befinden und Gesundheit. Wir wissen auch, dass abwertendes Führungsverhalten Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit, auf die Leistung, auf negatives Verhalten bei der Arbeit (z.B. unkollegiales Verhalten, Diebstahl) und sogar auf das Privatleben der Geführten hat. Erlebte Wertschätzung wiederum ist unter anderem ein Einflussfaktor auf die Mitarbeiterfluktuation, die in Zeiten des Arbeitskräftemangels für viele Unternehmen zur existentiellen Herausforderung wird. Die Vermeidung von als abwertend erlebten Situationen und die Verwirklichung von Wertschätzung hat damit für das Wohlergehen der Beschäftigten und den Erfolg von Organisationen hohe Relevanz. Bereits 1983 fanden Wikoff, Anderson und Crowell einen positiven Effekt von Wertschätzung auf die Produktivität in einer Interventionsstudie mit Beschäftigten in der Produktion.

 

Wie kann Wertschätzung bei der Arbeit gefördert werden?

Wir unterscheiden vier grundlegende Ansatzpunkte zur Vermeidung von Abwertung und zur Förderung von Wertschätzung in Organisationen:

  • Organisationale Bedingungen (z.B. Fairness bei Gehalts- und Karriereentscheidungen)
  • Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz (z.B. angemessene Arbeitsmittel)
  • Soziale Interaktionen (z.B. wertschätzende Führung)
  • Arbeitsaufgaben (z.B. Vermeidung unnötiger Aufgaben)

Die folgenden vier Beispiele veranschaulichen, was damit jeweils gemeint sein kann.

Organisationale Bedingungen

Eine Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft hat über viele Jahre hinweg eine große Anzahl an Stammkunden für das Geschäft gewonnen, die das Geschäft in erster Linie aufgrund ihrer kompetenten Beratung aufsuchen. Zudem leistet die Mitarbeiterin bereitwillig Überstunden und übernimmt verantwortungsvollere Aufgaben, die über ihre eigentlichen Tätigkeiten hinausgehen. Nun erfährt sie, dass jüngere Kolleginnen und Kollegen mit deutlich kürzerer Betriebszugehörigkeit den gleichen Stundenlohn bekommen wie sie. Ihr Chef meint dazu, dass er beim Gehalt der Verkäuferinnen und Verkäufer leider keine Differenzierungen vornehmen könne. Mit Blick auf ihre bisherigen Leistungen und ihr Engagement erlebt sie dieses Gehaltssystem als abwertend: „Jetzt bringe ich mich seit vielen Jahren so stark ein und bekomme das gleiche Gehalt, wie meine jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Das ist nicht fair.“

Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz

Ein Mitarbeiter in der Logistik nutzt bei seiner Arbeit Flurförderfahrzeuge, um die Ware zu transportieren. Allerdings ärgert er sich darüber, dass die Fahrzeuge sehr alt sind und schlecht gewartet werden. Er vermutet, dass die Geschäftsleitung Kosten einsparen möchte: „Mit uns in der Logistik kann man es ja machen. Ich muss mit diesem alten Zeug arbeiten. Bei uns wird an allen Ecken und Enden gespart.“ Der Mitarbeiter erlebt die aus seiner Sicht schlechten Arbeitsmittel als Abwertung.

Soziale Interaktionen

Eine Mitarbeiterin wird von ihrer Teamleiterin bei schwierigen Themen immer wieder um ihre Meinung gebeten. Die Führungskraft bedankt sich für die Sichtweisen der Mitarbeiterin und bezieht deren Meinung in ihre Entscheidungen ein. Die Mitarbeiterin erlebt das als starke Wertschätzung.

Arbeitsaufgaben

Eine Abteilungsleiterin wägt vor Geschäftsleitungssitzungen sorgfältig ab, welche Unterlagen sie sich durch ihren Assistenten für die Sitzungen vorbereiten lässt. So überlegt sie beispielsweise, wie umfangreich Präsentationen gestaltet sein müssen und welche Auswertungen tatsächlich in der Sitzung benötigt werden. Früher hatte sie oft viele Unterlagen dabei, die aus zeitlichen Gründen nicht genutzt werden konnten. Sie möchte unbedingt vermeiden, dass ihr Assistent für den Papierkorb arbeitet. 

Die Beispiele verdeutlichen, dass es zur Vermeidung von Abwertung und zur Förderung von Wertschätzung um deutlich mehr geht als um anerkennende Worte für gute Leistungen. Mit Blick auf die hohe Relevanz des Selbstwertes bei uns Menschen, lohnt es sich bei vielen betrieblichen Themen mögliche Auswirkungen auf den Selbstwert der Beschäftigten zu bedenken (z.B. in der Führungskräfteausbildung, bei der Gestaltung von Karrierewegen, bei Umstrukturierungen). Wenn es gelingt Organisationen zu Orten ausgeprägter Wertschätzung zu machen, kann damit ein Beitrag geleistet werden, der weit über die betroffenen Organisationen hinaus positive Effekte haben dürfte.

Unbestritten ist, dass sich Selbstwertbedrohungen bei der Arbeit nicht generell vermeiden lassen, z.B. wenn Feedback zu kritikwürdigem Verhalten gegeben werden muss. Allerdings sollten gerade auch in solchen Situationen die Bedrohungen des Selbstwertes minimiert werden. Dies kann beim Geben von kritischem Feedback unter anderem dadurch geschehen, dass nur so viele Beispiele und Begründungen genannt werden, bis der kritisierte Gesprächspartner das Feedback nachvollziehen kann. Wir haben ausführliche Empfehlungen zum Geben von kritischem Feedback zusammengestellt bis hin zur Frage, wie damit umgegangen werden kann, wenn Mitarbeitende für ihre Stelle nicht (mehr) geeignet sind (siehe Buchempfehlung unten).

 

Eine evaluierte Intervention zur Förderung von Wertschätzung: CREW

Eine sehr vielversprechende Intervention zur Förderung von Wertschätzung bei der Arbeit ist das CREW-Programm: Civility, Respect and Enagement at the Workplace. Die Mitarbeitenden eines Teams beschreiben zunächst die Ist-Situation: Wie nehmen die Teammitglieder das Teamklima unter Wertschätzungsgesichtspunkten wahr (z.B. „In meinem Team gehen die Teammitglieder respektvoll miteinander um.“)? Die Teammitglieder überlegen, was ihnen ein respektvollerer Umgang im Team bringen würde (z.B. alle fühlen sich wohler im Team).  Sie beschäftigen sich damit wie ein respektvollerer Umgang im Team konkret aussehen könnte und welche Hindernisse (z.B. schlechte Gewohnheiten) dafür überwunden werden müssen. Die Teammitglieder beschäftigen sich mit den Auswirkungen ihres eigenen Verhaltens: Welches Verhalten könnte auf Kolleginnen und Kollegen verletzend wirken? Sie überlegen, was sie zu einer Verbesserung des Teamklimas beitragen können. Im Zentrum des Prozesses steht die Wahrnehmung und Würdigung von Veränderungen in die gewünschte Richtung. Es geht vor allem darum mehr Achtsamkeit für das eigene Interaktionsverhalten zu entwickeln. In mehreren Team-Workshops, die sich in der Regel über mindestens 6 Monate erstrecken, arbeiten die Teammitglieder daran, ein wertschätzendes Miteinander zu gestalten. Für das Programm konnten vielfältige positive Effekte nachgewiesen werden, beispielsweise auf die Arbeitszufriedenheit und das Stresserleben der Teammitglieder. Anregungen für die Förderung von Wertschätzung in Teams können der genannten Originalliteratur entnommen werden und werden auch in unserem Buch beschrieben (siehe Buchempfehlung unten).           

 

Literatur

  • Cortina, L.M., Kabat-Farr, D., Magley, V.J. & Nelson, K. (2017). Researching rudeness: The past, present, and future of the science of incivility. Journal of Occupational Health Psychology, 22, 299–313. doi.org/10.1037/ocp0000089
  • Felfe, J. (2020). Mitarbeiterbindung. Göttingen: Hogrefe. doi.org/10.1026/02505-000
  • Häfner, A. & Hartmann-Pinneker, J. (2023). Wertschätzung in Organisationen fördern. Göttingen: Hogrefe.
  • Leiter, M.P., Day, A., Gilin-Oore, D. & Laschinger, H.K.S. (2012). Getting better and staying better: Assessing civility, incivility, distress and job attitudes one year after a civility intervention. Journal of Occupational Health Psychology, 17, 425–434. doi.org/10.1037/a0029540
  • Leiter, M.P., Laschinger, H.K.S., Day, A. & Gilin-Oore, D. (2011). The impact of civility interventions on employee social behavior, distress, and attitudes. Journal of AppliedPsychology, 96, 1258–1274. doi.org/10.1037/a0024442
  • Osatuke, K., Leiter, M., Belton, L., Dyrenforth, S. & Ramsel, D. (2013). Civility, respect and engagement at the workplace (CREW): A national organization development program at the department of veterans affairs. Journal of Management Policies and Practices, 1, 25–34.
  • Osatuke, K., Moore, S.C., Ward, C., Dyrenforth, S.R. & Belton, L. (2009). Civility, respect and engagement in the workforce (CREW): Nationwide organization development intervention at Veterans Health Administration. Journal of Applied Behavioral Science, 45, 384–410. doi.org/10.1177/0021886309335067
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  • Semmer, N.K., Tschan, F., Jacobshagen, N., Beehr, T.A., Elfering, A., Kälin, W. & Meier, L.L. (2019). Stress as offense to self: a promising approach comes of age. Occupational Health Science, 3,205–238. https://doi.org/10.1007/s41542-019-00041-5
  • Tepper, B.J. (2007). Abusive supervision in work organizations: Review, synthesis, and research agenda. Journal of Management, 33, 261–289. https://doi.org/10.1177/0149206307300812
Dr. Alexander Häfner

Dr. Alexander Häfner, geb. 1979. 2000 – 2006 Studium der Psychologie in Würzburg. 2006 – 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. 2012 Promotion. Weiterbildungen als Trainer und Coach. Seit 2012 Leiter Personalentwicklung bei der Würth Industrie Service GmbH & Co. KG. Seit 2014 Mitglied im Vorstand der Sektion Wirtschaftspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Arbeitsschwerpunkte: Führungskräfteausbildung, Mitarbeiterbindung, Organisationsentwicklung.