In der Arbeitswelt von heute müssen sich Arbeitgeber*innen und Beschäftigte an teils rasant wechselnde Bedingungen gewöhnen und mit ihnen mithalten. Der Mangel an Arbeitskräften hat zur Folge, dass der Fokus stärker auf die Fortbildung und Qualifizierung der Mitarbeitenden gelegt werden muss. Das arbeitsbezogene Lernen hat eine hohe strategische Bedeutung bekommen. Was bedeutet es, welche Formen gibt es, wie wird es sich entwickeln, was müssen Unternehmen beachten? Wir haben mit den Autoren Prof. Dr. Timo Kortsch, Dr. Julian Decius und Dr. Hilko Paulsen gesprochen, die in ihrem Buch „Lernen in Unternehmen“ das Thema in der Reihe „Praxis der Personalpsychologie“ beleuchten.
Warum haben Sie sich mit diesem Buch dem arbeitsbezogenes Lernen gewidmet, welche Aspekte sind Ihnen wichtig?
Timo Kortsch:
Bisherige Bücher haben bei arbeitsbezogenem Lernen oft lediglich traditionelle Weiterbildungsformate wie Trainings und Schulungen betrachtet und dabei das informelle Lernen am Arbeitsplatz sowie das selbstregulierte Lernen der Beschäftigten vernachlässigt. In der Praxis der Personalpsychologie ist eine klare Trennung im Arbeitsalltag meist kaum möglich. Gerade mit Blick auf konkrete Lernsituationen zeigt sich, dass Beschäftigte fast immer eine Mischung verschiedener Lernformen nutzen. Daher ist eine strikt isolierte Betrachtung aus praktischer Perspektive wenig sinnvoll; es sollte vielmehr auf eine Verbindung verschiedener Aktivitäten und die ganzheitliche Förderung des arbeitsbezogenen Lernens der Beschäftigten geachtet werden. Lernen kann beispielsweise mehr oder weniger formal erfolgen – viele Mischformen aus den prototypischen Reinformen des arbeitsbezogenen Lernens sind möglich. Diesem Buch haben wir daher ein umfassendes Verständnis des arbeitsbezogenen Lernens zu Grunde gelegt, das die verschiedenen Lernformen und auch förderliche Rahmenbedingungen des Lernens berücksichtigt.
Julian Decius:
Diese Mischformen oder Hybride ergeben sich zum Beispiel dann, wenn ich an einem von einem externen Anbieter organisierten Web-Seminar teilnehme, während ich im Homeoffice bin – oder vielleicht sogar in meiner Freizeit, also in einem „Off the Job“-Setting. Ist das noch formales Lernen oder schon selbstreguliertes Lernen? Als ein besonderes Hybrid gilt das „New Learning“, welches alle drei prototypischen Lernformen vereint. Hierbei kommt es darauf an, dass die Beschäftigten die im Arbeitsalltag auftretenden Lerngelegenheiten auch wirklich wahrnehmen. Wir sprechen hier vom Learning Opportunities Perception Potential, kurz LOPP, dass ich als Lerner optimalerweise mitbringe. Zusätzlich sollte mich meine Organisation im Lernprozess durch eine positive Lernkultur unterstützen. Im Buch beschreiben wir daher, wie Unternehmen das arbeitsbezogene Lernen am besten fördern, aber auch, wie Lernende ihre Kompetenzentwicklung selbst in die Hand nehmen können. So ist es letztendlich ein anwendungsbezogenes Buch für die Praxis geworden, ohne aber die theoretischen Wurzeln zu vernachlässigen – das war uns besonders wichtig!
Hilko Paulsen:
In der Personalentwicklung sind viele Menschen tätig, die unterschiedliche berufliche Hintergründe haben. Die Buchreihe „Praxis der Personalpsychologie“ ist ideal, um aktuelles Wissen aus der Psychologie in die Praxis zu transferieren. Dies beginnt bei einem konzeptionellen Verständnis von Begriffen wie den Lernformen, setzt sich mit dem empirischen Forschungsstand z. B. zu Einflussfaktoren und eine Beschreibung von Methoden fort. Am Ende veranschaulichen konkrete Fallbeispiele, welche Rolle Lernformen in der Praxis spielen. Das Buch bietet so einen fundierten und praxisrelevanten Überblick über das Thema „Lernen in Unternehmen“.
An wen wendet sich das Buch, was ist die Zielgruppe?
Hilko Paulsen:
Das Buch ist ideal für Learning and Development Expert*innen, die neue Impulse für ihre Arbeit gewinnen wollen.
Timo Kortsch:
Die Zielgruppe des Buches umfasst ganz verschiedene Gruppen, die mit dem arbeitsbezogenen Lernen in Berührung kommen. Das sind z. B. Führungskräfte, Personalverantwortliche, Personal- und Organisationsentwickler*innen, Trainer*innen, Berater*innen, Supervisor*innen, Personalpsycholog*innen. Es richtet sich aber nicht nur an Personen, die in der Praxis tätig sind, auch für Studierende und Lehrende bietet es einen kompakten Einstieg in das Thema.
Was versteht man unter arbeitsbezogenem Lernen, welche Formen gibt es?
Julian Decius:
Wir sprechen immer dann von arbeitsbezogenem Lernen, wenn eine Aktivität die Entwicklung von Kompetenzen ermöglicht, entweder für eine spezifische Arbeitsaufgabe (wie das Bearbeiten einer Excel-Tabelle), für meinen Job im Unternehmen (wie das Wissen über einzuhaltende Dienstwege), oder für meine gesamte Karriere (darunter fallen auch Präsentationsfertigkeiten, die mir im Bewerbungsprozess helfen). Die drei wichtigsten Formen des arbeitsbezogenen Lernens sind das formale, das informelle und das selbstregulierte Lernen.
Formales Lernen kennen wir alle besonders gut, mindestens seit unserer Schulzeit. Alle formal organisierten Fort- und Weiterbildungen, Trainings, Unterweisungen und Schulungen fallen darunter, solange sie strukturiert sind im Hinblick auf Lernziel, Lernzeit und -ort, sowie Lernunterstützung. Demgegenüber steht das informelle Lernen, das den größten Teil des arbeitsbezogenen Lernens ausmacht. Auslöser ist meistens eine Herausforderung oder Problemstellung, die Beschäftigte dann durch eigenes Ausprobieren, Reflektieren oder das Einholen von Feedback und Unterstützung zu lösen versuchen. Dabei wird eher beiläufig gelernt. Beim selbstregulierten Lernen hingegen steht nicht die Arbeitsaufgabe, sondern das Lernziel im Vordergrund. Daher müssen Lernende metakognitive Selbstkontrolle aufbringen, um sich Zeit zum Lernen zu nehmen, sich nicht ablenken zu lassen und das Lernziel nicht aus den Augen zu verlieren. Informelles Lernen kann aber auch zu selbstreguliertem Lernen werden, wenn ich beispielsweise durch die Herausforderung, eine komplexe Berechnung in Excel durchzuführen, merke, dass eine Auffrischung meiner Excel-Kenntnisse eine gute Idee wäre. Dann reserviere ich mir vielleicht etwas Arbeitszeit, um zu einem späteren Zeitpunkt bewusst ein Online-Tutorial durchzuarbeiten und mir Notizen zu machen.
Welche Bedeutung hat das in der Praxis, gehört Lernen bereits zum Arbeitsalltag dazu? Welche der genannten Formen sind hier wichtig?
Hilko Paulsen:
In allen Organisationen ist Lernen ein Thema. Dies kann mehr oder weniger systematisch geschehen. Gerade der Fachkräftemangel in Kombination mit Veränderungen, z. B. aufgrund von Digitalisierung, Vorgaben oder neuen Kundenanforderungen, führt jedoch dazu, dass Lernen strategisch wichtig wird. Schlüsselpositionen können nicht mehr mit externen Bewerbenden besetzt werden, interne Mitarbeitende müssen entwickelt werden. Organisationen sind gut beraten, wenn sie das Lernen nicht dem Zufall überlassen, sondern Lernangebote aktiv gestalten. Das beginnt bei Microlearnings, um z. B. neue Anweisungen zu vermitteln und endet bei umfangreichen mehrjährigen Entwicklungsprogrammen.
Timo Kortsch:
Die Bedeutung des Themas kann man auch an Zahlen des EU-weiten „Continuing Vocational Training Survey“ zeigen. Die Zahlen aus dem Jahr 2020 zeigen, dass 67,4 Prozent der EU-Unternehmen ihren Mitarbeitern arbeitsbezogene Lernmöglichkeiten geboten haben, wobei die Teilnahmequote bei etwa 50 Prozent liegt. In Deutschland sind diese Werte noch höher, in absoluten Zahlen nahmen im Jahr 2020 etwa 6,23 Millionen Personen an arbeitsbezogenen Lernangeboten teil. Besonders interessant ist, dass verschiedene Lernformate in der Praxis weit verbreitet sind. Dazu gehören klassische Lehrveranstaltungen, der Besuch von Informationsveranstaltungen und on-the-job-Training. Diese Formen sind in Deutschland und auch Österreich deutlich über dem EU-Durchschnitt verbreitet. Interessanterweise hat das selbstgesteuerte Lernen, wie zum Beispiel durch E-Learning, in den letzten Jahren von allen untersuchten Lernformaten am meisten an Bedeutung gewonnen und ist in Deutschland im Jahr 2020 auf eine Verbreitungsquote von 41,7 Prozent gestiegen.
Julian Decius:
Neue Trends der Digitalisierung der Arbeitswelt, zuletzt insbesondere angetrieben durch künstliche Intelligenz, erfordern ebenfalls ein stetiges arbeitsbezogenes Lernen. Beschäftigte müssen in immer kürzeren Abständen ihr Wissen auffrischen – was heute zum technischen Standard im Umgang mit künstlicher Intelligenz gehört, ist in wenigen Monaten vielleicht bereits veraltet. Ähnlich sieht es im Bereich Robotik und Mensch-Maschine-Interaktion aus. Und auch alternative Beschäftigungsformen, wie Freelancing, Gig Work und Leiharbeit, sind auf dem Vormarsch, die noch einmal ganz andere Herausforderungen für das arbeitsbezogene Lernen bringen: Welche Firma investiert schon gern in möglicherweise teure Weiterbildungen von lediglich temporär beschäftigten Personen? Dies könnte durch informelles und selbstreguliertes Lernen kompensiert werden.
Was ist der aktuelle Stand der Forschung zu den verschiedenen Lernformen?
Hilko Paulsen:
Zu formalem Lernen gibt es bereits eine gute Studienlage und auch Metaanalysen. Gut gemachte Trainings können durchaus einen mittleren bis hohen Effekt auf verschiedene Lernergebnisse haben, sei es – um mit der klassischen Kategorisierung von Donald Kirkpatrick zu sprechen – Zufriedenheit mit dem Lernen, Wissenszuwachs, Transferverhalten in ähnlichen Arbeitssituationen, und Auswirkungen für die Organisation. Wie diese Trainings gestaltet werden sollten, damit der Trainingstransfer möglichst gut gelingt, beschreiben wir ausführlich in unserem Buch.
Julian Decius:
Was das informelle Lernen angeht, sieht die empirische Lage übersichtlicher aus. Zwar gibt es eine Vielzahl an interviewbasierten Untersuchungen und Case Studies und auch korrelative Studien, die auf zu einem Messzeitpunkt erhobenen Befragungsdaten von Beschäftigten basieren. Allerdings mangelt es an Studien mit robusteren Forschungsdesigns wie experimentellen Laborstudien. Im gesamten Forschungsfeld existiert außerdem nur eine Metaanalyse einer amerikanischen Forschungsgruppe um Chris Cerasoli und Kolleg*innen; mein Team arbeitet an einer zweiten.
Zum selbstregulierten Lernen gibt es viele Erkenntnisse aus der Schul- und Hochschulforschung, die sich aber nur ansatzweise auf das arbeitsbezogene Lernen übertragen lassen. Die grundsätzlichen Abläufe der Planung und Zielsetzung des eigenen Lernens, der selbstgesteuerten „Überwachung“ sowie der Reflexion des Lernprozesses sind aber kontextübergreifend gültig. Hingegen mangelt es an validierten und gleichzeitig im Hinblick auf die Bearbeitungszeit testökonomischen Messinstrumenten zur Erfassung dieser Lernform im Fragebogen.
Persönlich mache ich mich dafür stark, die drei Lernformen aus einer stärker integrierten Perspektive zu betrachten, da sie sich gegenseitig bedingen und in der Praxis ineinander übergehen können. Daher fasse ich in Zusammenarbeit mit zwei Kolleginnen aus Berlin aktuell diverse Metaanalysen zum arbeitsbezogenen Lernen in einer einzelnen sekundären Metaanalyse zum Zusammenhang von Lernaktivitäten und Lernergebnissen zusammen, um das in der Wissenschaft vorherrschende „Silo-Denken“ zu überwinden. Interessierte können erste Konferenzbeiträge aus diesem Forschungsprojekt bereits unter anderem bei ResearchGate einsehen:
Building Bridges Between Work-Related Learning Approaches: Insights From a Secondary Meta-Analysis
Wie kann man als Unternehmen das arbeitsbezogene Lernen im Unternehmen gestalten? Gibt es Beispiele, die als Vorbild dienen können?
Timo Kortsch:
Wir haben dies in mehreren – wie ich finde – sehr spannenden Beispielen im Buch beschrieben. Ich möchte die Praxis des arbeitsbezogenen Lernens einmal am Beispiel von DATEV erläutern. DATEV hat eine Vielzahl von Initiativen im Rahmen eines Transformationsprozesses eingeführt, um Lernen im Unternehmen zu fördern. Ein besonderes Beispiel ist das DATEV DigiCamp, ein unternehmensweites Format, das mehrmals im Jahr stattfindet und Mitarbeitern die Möglichkeit bietet, in einem informellen Umfeld zusammenzukommen, Ideen auszutauschen und gemeinsam über die Zukunft des Unternehmens zu diskutieren.
Julian Decius:
Ein weiteres Beispiel, das wir in unserem Buch darstellen, ist ein elektronisches Performance-Support-System der AOK Niedersachsen, mit dem schönen Titel „Frag James“. Diese Softwarelösung erkennt, wenn beispielsweise zu aufgerufenen Websites oder Funktionen der verwendeten Bürosoftware zusätzliche Informationen aus dem internen Wissensmanagementsystem vorliegen. Dann können die Beschäftigten diese Informationen ihres Butlers James abrufen und auf diese Weise arbeitsintegriert lernen, ohne eine Transferhürde bei der Anwendung des Gelernten überwinden zu müssen. Falls Beschäftigte zu einem Thema detailliertere Kenntnisse erlangen möchten, können sie weiterführende E-Learning-Elemente aufrufen – eine Brücke zum selbstregulierten Lernen.
Hilko Paulsen:
Manchmal könnte man meinen, das formale Lernen ist tot. Das formale Lernen spielt jedoch weiterhin eine Rolle. Eine Bedarfsanalyse und darauf aufbauende Planung mit Lernzielen sowie Berücksichtigung des Lerntransfers fördern die Qualität von formalem Lernen. Als ein Beispiel einer individualisierten Bedarfsanalyse wird ein Orientierungscenter in virtueller Form bei der Salzgitter Flachstahl GmbH im Band näher beschrieben. In Programmen wie der Führungskräfteentwicklung können verschiedene Lernformen integriert werden. Zum Beispiel wird Inhalt formal vermittelt, es wird Raum gegeben, informelle Lernerfahrungen zu reflektieren und Lernmaterial zum selbstregulierten Lernen bereitgestellt. Zudem kann der Grad der Formalisierung und Selbstregulation variiert werden.
Die Arbeitswelt wird geprägt durch die Veränderungen im Rahmen der Digitalisierung, künstliche Intelligenz etc. – welche Rolle spielen diese Entwicklungen beim Lernen?
Timo Kortsch:
Die Digitalisierung hat natürlich auch beim Lernen nicht Halt gemacht. Einerseits erfordert sie neue Kompetenzen, sie bietet aber auch neue Möglichkeiten für das arbeitsbezogene Lernen. Es gibt nun eine Fülle an hochwertigen digitalen Lerninhalten und Lernmanagementsystemen, die den Beschäftigten vielfältige individualisierte Lernpfade bieten. Kollaborationstools ermöglichen das niedrigschwellige Zusammenarbeiten und Teilen von Lernerfahrungen. Allerdings reicht es selten, als Unternehmen tolle digitale Lernangebote einzukaufen, sie müssen auch genutzt werden. Da spielt auch Lernkultur eine Rolle. Wie wir im Buch in den Fallbeispielen sehen, funktioniert es manchmal besser, wenn die Lerninhalte von Beschäftigten selbst produziert und bereitgestellt werden, auch wenn sie dann zum Beispiel nicht in bester Videoqualität sind. Sie sind dann aber in der richtigen „Sprache“ und berücksichtigen auch Besonderheiten der Arbeitsabläufe.
Julian Decius:
Wie vorhin schon erwähnt, sind beim arbeitsbezogenen Lernen, wie in vielen anderen Kontexten auch, die Auswirkungen des Vormarschs künstlicher Intelligenz zu spüren. Nehmen wir ChatGPT als Beispiel: Noch vor zwei Jahren wäre man komisch angeschaut worden, hätte man Unternehmen je nach Branche geraten, dass eine relevante Anzahl von Beschäftigten auch außerhalb der IT-Abteilung zukünftig mindestens Grundkenntnisse in Prompt Engineering haben sollte, damit sie von generativen KI-Tools möglichst passende Antworten erhalten können. So kann ich ChatGPT zu meinem persönlichen Tutor machen, der mir die Arbeitswelt individuell maßgeschneidert erklärt, was uns der Idealvorstellung des adaptiven Lernens schon deutlich näherbringt. Neben diesen unglaublichen Chancen müssen die Beschäftigten aber auch lernen, mit den Risiken dieser Technologie umzugehen. Bei der aktuellen Geschwindigkeit, in der neue KI-Anwendungen zur Verfügung gestellt werden, ist kontinuierliches arbeitsbezogenes Lernen vielleicht notwendiger als je zuvor. Das unterstreicht auch die Aussage des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil vor einiger Zeit, dass es ab 2035 keinen Job mehr geben wird, der nichts mit KI zu tun hat. Ob und unter welchen Rahmenbedingungen die Nutzung von ChatGPT das arbeitsbezogene Lernen eher behindert oder unterstützt, untersuchen Kolleginnen und ich an der Universität Bremen übrigens aktuell in einem computerbasierten Laborexperiment.
Hilko Paulsen:
Die Digitalisierung erfordert oft neue Fertigkeiten. Ganz konkret ist das die Handhabung neuer Software. Die Digitalisierung verändert aber auch Abläufe und schafft neue Rollen. Bei der KI habe ich z. B. ein Lernziel: Ich möchte im Dschungel der Tools den Überblick behalten und verstehen, was da abgeht. Ganz konkret: Ich möchte anhand von Beispielen erläutern können, wie KI mir im Alltag helfen kann, z. B. beim Schreiben von Texten.
Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein, wie könnte arbeitsbezogenes Lernen in 5-10 Jahren aussehen?
Timo Kortsch:
Ein Blick in die Zukunft ist immer schwierig. Aber die im Buch beschriebenen vielfältigen Fallbeispiele geben doch Hinweise, in welche Richtung sich das Lernen in Unternehmen zukünftig entwickelt. Wir sehen immer häufiger einen Mix aus digitalen und analogen Lernangeboten, die individuell auf die Bedürfnisse der Lernenden zugeschnitten werden können. Das Lernen wird partizipativer werden, wobei Bottom-Up-Prozesse, also z. B. durch Lernende initiierte Lernformate, zunehmend Top-Down-Prozesse ergänzen. Formate wie Barcamps und Working out Loud werden an Bedeutung gewinnen, da sie einen offenen Austausch und gemeinsames Lernen fördern. Die Lernangebote werden sich stärker auf die spezifische Unternehmenskultur ausrichten und sich möglicherweise innerhalb eines Unternehmens differenzieren, weg von "Standardangeboten für alle". Eine individuelle Lernbegleitung wird die Lernangebote verstärkt unterstützen, wodurch dies zunehmend zu einer Kompetenzanforderung für (angehende) Führungskräfte wird. Offene Austauschformate gewinnen an Bedeutung, um in sozialen Kontexten voneinander zu lernen. Unternehmen werden vermehrt experimentieren, um passende Lernformate für individuelle und organisationale Bedürfnisse zu finden, anstatt Großprojekte top-down auszurollen. Beschäftigte werden beim Lernen über Unternehmensgrenzen hinweg denken, und Unternehmen öffnen sich zunehmend gegenüber der Außenwelt, um von externen Impulsen zu profitieren.
Hilko Paulsen:
Fünf Jahre vergehen wie im Flug. Einerseits wird sich viel ändern, es wird neue Möglichkeiten geben. Gleichzeitig ändert sich nicht die Funktionsweise des menschlichen Gehirns – Lernen bleibt eine Eigenleistung des Menschen, daran wird sich so schnell nichts ändern. Es wird jedoch leichter Lerninhalte zu erstellen. Auch dürfte durch die KI allgemein die Menge an Informationen noch weiter zunehmen. Im Buch skizzieren wir eine Lernzieltaxonomie, bei der ein Lernziel die Einschätzung der Relevanz ist. Diese Form der Bewertung wird vermutlich wichtig, um in der Informationsflut handlungsfähig zu bleiben und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Julian Decius:
Ganz egal, wie stark die technologische Entwicklung voranschreitet: Unternehmen können immer nur die Rahmenbedingungen des Lernens beeinflussen, insbesondere in Bezug auf informelles Lernen. Entscheidend ist und bleibt die individuelle Lernmotivation. Wir müssen bedenken, dass nicht für alle Beschäftigten die persönliche Karriereentwicklung im Vordergrund steht. Konzepte zur Förderung des arbeitsbezogenen Lernens dürften zukünftig daher noch stärker Gamification-Ansätze enthalten, um Beschäftigte zu persönlichem Lernengagement zu motivieren, um mit den Veränderungen der Arbeitswelt Schritt halten zu können. Neben dem Kompetenzaufbau spielt hier auch der Erhalt bereits erworbener Kompetenzen eine wichtige Rolle.
Auf der anderen Seite sollten diejenigen, die bereits intrinsisch motiviert sind und gern so viel wie möglich lernen möchten, durch eine positive Lern- und Empowerment-Kultur dazu ermutigt werden. Dies kann etwa durch organisationsspezifische Lernplattformen unterstützt werden. Auch die Förderung proaktiven Arbeitsverhaltens wie Job Crafting – dabei handelt es sich um das Anpassen von Arbeitsaufgaben, das Gestalten von sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz sowie das Verändern von Denkweisen über die Arbeit – ist empfehlenswert. Zusammengefasst und auf den Punkt gebracht wird das arbeitsbezogene Lernen in den nächsten Jahren also vermutlich technologiebasierter, individualisierter und motivationsorientierter.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Literaturhinweise:
Cerasoli, Christopher P., e.a.: Antecedents and Outcomes of Informal Learning Behaviors: a Meta-Analysis. Journal of Business and Psychologie, Volume 33, pages 203–230, (2018)
https://link.springer.com/article/10.1007/s10869-017-9492-y
Decius, Julian; Kortsch, Timo ; Paulsen, Hilko ; Schmitz, Anja: Learning What you Really, Really Want: Towards a Conceptual Framework of New Learning in the Digital Work Environment. http://hdl.handle.net/10125/79975
Decius, Julian; Schaper, Niclas; Klug, Katharina; Seifert, Andreas: Active learning, active shaping, or both? A cross-lagged panel analysis of reciprocal effects between work design and informal workplace learning, and the mediating role of job crafting. Journal of Vocational Behavior. Volume 144, August 2023, 103893
https://doi.org/10.1016/j.jvb.2023.103893
Kortsch, Timo; Paulsen, Hilko, Decius, Julian: New Learning geht mit Lernkultur besser. Wirtschaftspsychologie aktuell, 2023(4), 30-36. https://www.researchgate.net/publication/376513665_New_Learning_geht_mit_Lernkultur_besser
Kortsch, Timo; Kaiser, Christian; Stüve, Till: Transformation durch Lernen: Wie die Unternehmenstransformation der DATEV eG mit verschiedenen Dialog- und Lernformaten gestaltet wird. Gruppe. Interaktion. Organisation. Volume 54, pages 403–410, (2023). https://link.springer.com/article/10.1007/s11612-023-00698-1
Prof. Dr. Timo Kortsch, geb. 1985. 2006–2013 Studium der Psychologie in Halle und Magdeburg. 2013–2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Braunschweig. 2019 Promotion. Seit 2016 selbstständig als psychologischer Berater im Bereich Organisations- und Führungskräfteentwicklung. 2020-2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für ZukunftsEnergie- und Stoffstromsysteme. Seit 2021 Professor für Wirtschaftspsychologie an der IU Internationale Hochschule. Arbeitsschwerpunkte: Stressmanagement, Lernen und Lernkultur in Unternehmen, Glück bei der Arbeit. Zusatzausbildungen als Systemischer Berater und Therapeut (SG) und Hypnotherapeut (M.E.G.).
Dr. Julian Decius, geb. 1988. 2009–2014 Studium der Psychologie mit Vertiefungsrichtung Wirtschaftspsychologie an der Ruhr-Universität Bochum und an der Lindenwood University, Missouri. 2015–2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Paderborn. 2020 Promotion zum Thema „Informelles Lernen im Kontext industrieller Arbeit –Konzeptualisierung, Operationalisierung, Antezedenzien und Lernergebnisse“. Seit 2021 Leitung des Arbeitsgebiets Organisationspsychologie im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsbezogenes Lernen, „New Learning“, Beschäftigungsfähigkeit, Job Crafting, Arbeit in algorithmisch geprägten Kontexten, Kompetenzentwicklung im Profifußball.
Dr. Hilko Paulsen, geb. 1985. 2005–2011 Studium der Psychologie in Köln. 2011–2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Braunschweig. 2017 Promotion zu Stimmung in Gruppen. 2019–2021 in der Führungskräfteentwicklung in der Zollverwaltung tätig. Seit 2022 Leiter der Personal- und Organisationsentwicklung bei der Region Hannover. Themenschwerpunkte sind: Kompetenzentwicklung, arbeitsintegriertes Lernen und organisationale Lernprozesse.