Sieben Gesundheitseinrichtungen in Deutschland haben von 2019 bis Anfang 2022 die Umsetzung eines erweiterten Qualifikationsmix mit akademisch qualifiziertem Pflegepersonal erprobt. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) hat das Programm „360° Pflege – Qualifikationsmix für Patient*innen – in der Praxis“ wissenschaftlich begleitet. Wir haben mit Dr. Frank Weidner, Professor für Pflegewissenschaft an der Universität Koblenz und Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP), darüber gesprochen.
Herr Professor Weidner, was ist aus Ihrer Sicht das wichtigste Argument für gemischte Pflegeteams mit Bachelor- und Master-Absolvent*innen?
Es geht um existenzielle Fragen in der pflegerischen Versorgung und deshalb braucht es vor Ort in der direkten Patientenversorgung die höchste und belastungsfähigste Form des Wissens, die uns zur Verfügung steht – das ist die Wissenschaft. Mehr akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen in der praktischen Versorgung reduzieren Komplikationen und senken die Mortalität, wie Studien zeigen. Dadurch wird die Versorgungsqualität gesichert und nach vorn gebracht.
Mit welchen Aufgaben waren die Bachelor- und Masterabsolvent*innen betraut?
Im Projekt haben wir von AQP gesprochen, also akademisch qualifiziertes Pflegepersonal. Im Laufe des Projekts haben sich zwei Profile herauskristallisiert: Die AQP mit Bachelor sind zumeist in den direkten Teams eingesetzt worden, also direkt auf der Station oder im Wohnbereich. Sie waren für fachliche, teilweise auch spezialisierte Fragen des Fachgebiets zuständig und fest in die Teams integriert. Nicht selten waren sie auch mit Leitungsaufgaben betraut, im Sinne einer pflegefachlichen Leitung.
Die AQP mit Master sind eher abteilungs- oder teamübergreifend eingesetzt worden. Man hat ein oder zwei AQP mit einem Bachelor im Team und man hat eine AQP mit Master, die meist spezialisiert ist, zum Beispiel auf Demenz, Delir, Wundversorgung oder bestimmte Krankheitsbilder. Diese berät dann die Teams, die Angehörigen und andere Berufsgruppen oder übernehmen komplexe Pflegeprozesssteuerung.
Was ist in der Gesamtheit dabei herausgekommen?
In allen Projekten wurden die positiven Auswirkungen auf die Versorgungsqualität bestätigt, insbesondere was den Informationsstand, das Beratungsgeschehen oder auch die Zufriedenheit der Patient*innen betrifft. Alle Projektbeteiligten hatten den Eindruck, dass der Qualifikationsmix funktioniert, was den Beratungs- und Wissensaspekt betrifft, die Transparenz und die Zuständigkeiten der Rollen sowie die Versorgungsabläufe an den Schnittstellen. Oft wurde auch berichtet, dass Patient*innen sich bedanken oder Angehörige sich sicherer bei Entscheidungen fühlen.
Welche Ziele hatten die Projektbeteiligten sich selbst gesteckt?
Ein vorrangiges Ziel war, dass es überhaupt erstmal gelingt, neue Kolleginnen und Kollegen, die wissenschaftsbasiert qualifiziert sind, in die Teams zu integrieren – und das möglichst dauerhaft und unabhängig von den Personen. Weitere Ziele waren eine wahrgenommene Aufwertung des Pflegeberufs, ein Wachsen des Teams und neue Karrierewege für Pflegefachpersonen – also zunächst einmal selbstbezogene Ziele. Darüber hinaus wurden auch Ziele genannt, die die Patient*innen, die Angehörigen sowie das interprofessionelle Geschehen betreffen.
Wie haben die Teams auf die neuen akademisch qualifizierten Teammitglieder reagiert?
Zu Anfang des Projekts gab es große Vorbehalte. Das ist verständlich. Plötzlich kommen neue Kolleg*innen, die haben studiert. Es gibt Ängste, es gibt Sorgen, und es gibt eine Reihe von Widerständen. Die muss man ernstnehmen, darüber kann man nicht einfach hinweggehen. Es muss also sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, und das ist eine Leitungsaufgabe. Die Teams haben ja noch kaum Erfahrungen mit akademisch qualifizierten Pflegenden, weil es nur so wenige gibt, die in der Patientenversorgung tätig sind. Oft heißt es dann: Was wollen die denn hier? Bis hin zu: Die wissen alles besser und können aber nichts. Das muss allen bewusst sein: Beim erweiterten Qualifikationsmix treffen zwei unterschiedliche Traditionen, Kulturen und Bildungssystematiken aufeinander. Das muss vorbereitet und begleitet werden.
Wie ist das in diesem Projekt gelaufen?
Wir haben in der Begleitreflexion eng mit den Einrichtungen gearbeitet. Zu Beginn war das ein großes Thema: Wie informiere ich die Teams, wie schaffe ich Transparenz, wie gelingt Überzeugungs- und Vertrauensarbeit? Es waren schließlich die Beteiligten vor Ort, die sich diesen Aufgaben stellen mussten. Wir haben projektübergreifend Vernetzungstreffen durchgeführt und auch diese Themen angesprochen. Die Einrichtungen, die sich für das Programm beworben hatten, hatten sich aber auch schon im Vorfeld auf den Weg begeben. Allen war klar, für ein solches Projekt muss man entsprechend vorbereitet sein.
Haben sich die Vorbehalte im Laufe des Projekts aufgelöst?
Ja. Am Ende des Programms waren die Vorbehalte wirklich überall – wenn auch nicht restlos – doch weitgehend ersetzt oder verschwunden. Es überwog das Gefühl, etwas gewonnen zu haben. Und dann kam eher eine Verlustangst auf: Was ist jetzt, wenn die wieder weg sind? Diese konsiliarischen Anfragen waren der Renner. Da ist jemand, der bei fachlichen Fragen kommt und mich berät. Das mache ich nicht ständig, aber wenn ich es brauche, ist jemand da. Von daher hat sich das Bild sehr stark gewandelt und es kam zum Erleben einer Win-Win-Situation: Wir gewinnen, die Patient*innen gewinnen, der interprofessionelle Austausch gewinnt. Am Ende haben alle Einrichtungen gesagt: Wir machen weiter, auch über die Förderphase hinaus. Alle haben gesehen: Das ist sinnvoll, das bringt uns voran. Und deswegen sind alle dabeigeblieben.
Welche Rolle haben die Führungspersonen bei so einem Projekt?
Hier muss man unterscheiden zwischen der Topebene, d. h. die Pflegedirektion und die Pflegedienstleitung, und der Stationsleitung. Die Topebene muss wirklich sehr authentisch, glaubwürdig und auch sehr nah bei den Pflegenden sein. Einrichtungen, bei denen das Vertrauensverhältnis – aus welchen Gründen auch immer – gestört ist, haben es erheblich schwieriger. Vielen ist nicht klar, wie wichtig das Vertrauen des Personals ist, um sich auf etwas Neues einzulassen. Dieses Vertrauen muss man sich erarbeiten.
Welches Resümee ziehen Sie aus dem Programm?
Das Resümee ist: Es funktioniert! Und es funktioniert nicht nur, sondern es ist gelungen, akademisch qualifiziertes Pflegepersonal sinnvoll und vor allem gewinnbringend für alle Beteiligten in den verschiedenen Einrichtungen zu integrieren. Es kostet Investitionen, aber es gelingt. Das ist die erste Kernbotschaft. Und: Die erweiterten gemischten Teams wachsen daran. Ein weiterer Benefit: Das Bild des Qualifikationsmix ist ein sehr attraktives. Es baut eine Brücke zwischen diesen oftmals verhärteten Fronten von beruflicher Ausbildung versus akademische Qualifikation. Es ist ein kluger Kompromiss, der gangbar und anspruchsvoll ist und tatsächlich etwas Neues darstellt.
Inwiefern?
Wir wissen, dass man auf politischer Seite große Bedenken hat, über die Akademisierung einer so großen Berufsgruppe zu sprechen. Das sind Kosten, die sich momentan keiner vorstellen kann. Es geht also nicht um eine Vollakademisierung, sondern um eine kluge und wirksame Teilakademisierung in der Pflege. Und Qualifikationsmix ist meines Erachtens ein praxisgängiges Modell, um eine Teilakademisierung in der Pflegelandschaft zu etablieren. Aber auch das ist noch ein weiter Weg. Deutschland befindet sich im Moment eher im Rückwärtsgang, was die Akademisierung betrifft. In der Teilakademisierung sehe ich eine politische Chance und ein wachsendes Interesse der Politik sowie der Bundesländer.
Was wäre eine Forderung an die Politik?
Die Politik muss verstehen und handeln. Ganz einfach. […] Wir benötigen eine Versechsfachung der Bachelor-Studienplätze. Das hört sich zwar viel an, relativiert sich aber, wenn man es umrechnet. Hat ein Bundesland derzeit vielleicht 100 oder 150 Studienplätze, benötigt es dann also 600 oder 900 Studienplätze. Das ist machbar. Die Österreicher haben das sozusagen in einem Abwasch geschafft. Es kostet Geld, aber es ist zu schaffen. Unsere Vorschläge sind realistisch und die Politik muss sich nun auf den Weg begeben, um einen Weg aus dem beschrieben Bermudadreieck zu finden. Sonst drehen wir uns weiter im Kreis.
Und ohne Politik kommen wir da nicht hin?
Wenn die Berufsgruppe so aufgestellt wäre, dass sie ihre eigenen Positionen und Ziele formulieren könnte und auch so organisiert wäre, dass sie diese durchsetzen könnte, dann wären wir heute ganz woanders. Das sehen wir am Beispiel der Ärzt*innen sehr gut. Die sind bestens organisiert und müssen nicht wie wir über ein Personalbemessungsinstrument diskutieren. Der ärztliche Personalaufbau in den Krankenhäusern ist in den letzten 15 Jahren massiv nach oben gegangen. Kein Trick, keine Zauberei, sondern einfach eine Frage der Organisation.
Das Interview mit Prof. Dr. Frank Weidner führte Brigitte Teigeler im Oktober 2022. Dies ist eine gekürzte Version.
Prof. Dr. Frank Weidner hat eine Professur für Pflegewissenschaft an der Universität Koblenz inne, leitet dort kommissarisch das IPW und ist Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP). Er ist ausgebildeter Krankenpfleger und hat Gesundheitswissenschaften/Lehramt Gesundheit BBS studiert.